I. Scaglia: The Emotions of Internationalism

Cover
Titel
The Emotions of Internationalism. Feeling International Cooperation in the Alps in the Interwar Period


Autor(en)
Scaglia, Ilaria
Erschienen
Oxford 2019: Oxford University Press
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
£65.00
von
Romed Aschwanden, Departement Geschichte, Universität Basel

Ilaria Scaglia zeigt mit ihrem Buch auf, wie Emotionen politische Ideen und Praktiken in der Zwischenkriegszeit formten. Sie illustriert dies mittels der Analyse von vier Organisationen: dem Völkerbund, dem Interessenverband Union International des Associations d’Alpinisme (UIAA), einem Sanatorium für Tuberkulosekranke und schliesslich eines internationalen Universitätssanatoriums.

Welche Rolle die Alpen bei diesem Unterfangen beziehungsweise für diese verschiedenen Organisationen spielten, erläutert die Autorin im ersten Kapitel. Die historischen Akteure fanden in den Alpen – präziser vielleicht: in den Alpenbildern – zahlreiche Anknüpfungspunkte für ihre Anliegen. Sei es in der Literatur oder der bildenden Kunst, die Alpen werden hier wie dort als Ort imaginiert, wo erhabene Gefühle den Menschen ergreifen. Die Internationalisten der Zwischenkriegszeit, so Scaglia, besetzten dieses Erhabene («sublime» im englischen Original) mit der Empfindung von unerschütterlicher Freundschaft, unvergesslichen Begegnungen und Kameradschaft zwischen Personen aller Nationen und sozialen Schichten. Kurzum: Sie konstruierten die Alpen «as an ideal site for peacful international cooperation» (S. 20).

Die Akteurinnen und Akteure der Zwischenkriegszeit, welche die Alpen derart idealisierten, bewegten sich in einem spannungsgeladenen Umfeld. Vertreter internationalistischer wie nationalistischer Ideen beanspruchten die Alpen gleichermassen für sich. Während der Bau der grossen Alpentunnels und ihre politische Inszenierung von einer intensiven internationalen Kooperation zeugen, belegt die zunehmende Militarisierung das genaue Gegenteil. Für die Internationalisten bildete der Alpinismus den Erfahrungsschatz, mit dem die Alpen als Blaupause für erfolgversprechende internationale Kooperation genutzt werden konnten: Er machte den Gebirgszug mindestens punktuell zu einem kosmopolitischen Ort, an dem Personen unterschiedlichster Herkunft unter dem gemeinsamen alpinistischen Interesse aufeinandertrafen, durchaus in sportlicher Konkurrenz, aber weitgehend im friedlichen Miteinander.

Anhand von Reden und Schriften steigt Scaglia in die Geschichte des Völkerbundes ein. Sie vertritt die These, dass die Organisation sich gezielt mit positiven Emotionen vermarktete («branded»), wobei die Verbindung mit den Alpen häufig eine zentrale Rolle gespielt zu haben scheint. Nicht zuletzt deshalb wählte die Organisation Genf als Hauptsitz – eine Lage mit bestem Blick auf die Alpen. Zum Beispiel mit internationalen Schullagern in den Alpen überführten die Akteurinnen und Akteure ihre mündlich und schriftlich formulierten Ziele in die Praxis. Die künftigen Weltbürger sollten in der Bergkulisse kulturelle Vorurteile gegenüber Mitgliedern anderer Nationen abbauen und zu emotionaler Reife gelangen.

Eine durchaus ähnliche Zielsetzung verfolgte die UIAA. Gemäss dem schweizerischen Journalisten und zeitweiligen Präsidenten der Organisation, Charles Egmont d’Arcis (1887–1971), war ihr wichtigstes Anliegen «uniting people across national borders» (S. 83) – der Alpinismus erscheint in dieser Interpretation eher als Mittel zum Zweck. Der 1932 in Chamonix gegründete Zusammenschluss zahlreicher alpinistischer Verbände nutzte gezielt Emotionen, um sein Anliegen zu vermitteln, ähnlich dem Völkerbund. Das Ziel eines friedlichen internationalen Zusammenlebens vermittelte die UIAA über Zeitschriften und Zeitungsartikel, regelmässig aber auch an ihren Veranstaltungen. Die Alpen bildeten auch hier das Gravitationszentrum für emotionale und sachliche Argumente sowie einem Set von Ideen und Praktiken. Insbesondere das Zusammentreffen von Personen unterschiedlicher Nationalitäten von Angesicht zu Angesicht und das daraus (möglicherweise) entstehende Gefühl der Freundschaft erachteten die Vertreter der UIAA als wichtig für die Friedenssicherung.

Gesunde Körper waren nicht nur für die ambitionierten Ziele der Alpinisten unabdingbar, sie standen auch im Zentrum der Arbeit des Arztes Auguste Rollier (1874–1954). Rollier etablierte sich als Spezialist für Heliotherapie und war Gründungsdirektor der Clinique Manufacture Internationale im waadtländischen Bergdorf Leysin. Für die epistemic community, in der sich Rollier bewegte, zählte die Medizin zu den Hilfsmitteln auf dem Weg zu einer friedlicheren Welt. Scaglia betont, wie wichtig Emotionen für die Beglaubigung dieser Annahme waren: Rolliers Therapie fand in opulent illustrierten Publikationen grosse Verbreitung. Die Abbildung von glücklichen Genesenen vor alpiner Kulisse, die Beschreibungen von Freundschaften zwischen den Patientinnen und Patienten aus verschiedenen Nationen bestätigten diesen Ansatz eindringlich. Die Alpen mit ihrem imaginativen Gepäck bildeten auch hier die Projektionsplattform schlechthin.

Im letzten Kapitel vertieft die Autorin die Thematik der internationalen Kliniken anhand des Universitätssanatoriums in Leysin. Ausgerichtet auf eine internationale Klientel von Akademikerinnen und Akademikern, bot die Klinik nebst der Möglichkeit zur Rekonvaleszenz eine auserlesene Bibliothek und Vorlesungen zum Fortsetzen und Vertiefen der Studien. Die Sanatorien in Leysin waren bis in die 1940er Jahre, als Antibiotika zunehmend den Kuraufenthalt als Heilmittel ablösten, international renommierte und gut besuchte Einrichtungen. Nicht nur beim weihnachtlichen Fondue, das perfekt ausgeleuchtet fotografisch festgehalten wurde (und als Titelbild der Publikation dient), knüpften Patientinnen und Patienten unterschiedlichster Herkunft emotionale Bande.

Scaglia gelingt es, in ihrer Studie die Ansätze der History of Emotions gewinnbringend auf die Alpen anzuwenden. Die Frage nach dem Entstehen, Dokumentieren, Konstruieren und Managen von Emotionen (und dem Sprechen darüber) zieht sich als roter Faden durch die detailreichen Ausführungen und Exkurse. Aufschlussreich ist etwa auch ihre Analyse des Bergfilms, den sie als Beispiel untersucht, wie kulturelle Produkte die «richtigen» Emotionen, die es mit den Alpen zu verbinden galt, verbreiteten. Sie differenziert dabei bestehende Forschung, die auf die nationalistischen Untertöne des Genres fokussiert, indem sie betont, dass Filmmotive wie der freundschaftliche Wettkampf, die Achtung der alpinen Natur oder die selbstlose Hilfsbereitschaft durchaus Anknüpfungspunkte an internationalistisches Gedankengut aufweisen. In ihrer Untersuchung fokussiert Scaglia stark auf einzelne Personen (Charles Egmont d’Arcis, Auguste Rollier, Louis Vauthier). Während dies dem Lesefluss und dem Verständnis sehr zuträglich ist, wird jedoch nicht immer ausreichend deutlich, wie repräsentativ diese Beispiele in ihrem jeweiligen Kontext sind.

Scaglias Studie unterstreicht einmal mehr die Relevanz von mentalen Bildern und den damit verknüpften Emotionen für die Wahrnehmung eines Naturraums. Der Wert ihrer Arbeit liegt mitunter darin, dass sie minutiös rekonstruiert, wie auch Gefühle, die angesichts der Alpen empfunden werden, letztlich konstruiert sind – und dieser Konstruktionsprozess von historischen Akteuren bewusst beeinflusst wurde. Darüber hinaus stösst sie eine Reflexion über die Schweiz als Standort internationaler Organisationen an, die über die hergebrachten Narrative der Neutralität hinausgeht und vermehrt eine inszenatorische Praxis ins Zentrum rückt.

Zitierweise:
Aschwanden, Romed: Rezension zu: Scaglia, Ilaria: The Emotions of Internationalism: Feeling International Cooperation in the Alps in the Interwar Period, Oxford 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 77-79. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.